Zuerst: Wer ist Raffael Nagel?
Puh. Das ist eine hochphilosophische Frage, nach deren Antwort ich seit mittlerweile drei Jahrzehnten selbst suche. Augenzeugen versichern mir, er sei ein guter Typ, stubenrein und beiße nur selten. Definitiv eher Nachteule als Morgenmensch. Als Kind habe ich zusammen mit meinem Onkel bei meinen Großeltern gelebt und seine Schränke waren meine Schatzkammern. In diesen habe ich - in viel zu jungem Alter - Schätze wie Pulp Fiction, Das kleine Arschloch und WrestleMania X entdeckt. Um die erste Interviewantwort nicht zu einer Autobiographie ausarten zu lassen: Wenn ihr diese drei Dinge anständig mischt und einen Haufen Glück im Kennenlernen von ganz fantastischen Menschen dazugebt, kommt dabei ein Raffael Nagel heraus.
Woher stammt Deine Faszination für Lucha?
Nach WrestleMania X wollte ich natürlich mehr sehen. Zu der Zeit hat Tele 5 eine gekürzte Fassung von SmackDown! ausgestrahlt - mitten in der Nacht, ständig von Werbung für diverse Sexhotlines mit meist „reifen, einsamen“ Frauen unterbrochen. Es war ein Pflichttermin. Meine ersten Favoriten waren damals Rey Mysterio, Eddie Guerrero, Owen vor Bret Hart und Doink... also eigentlich hätte ich viel früher auf Lucha Libre kommen sollen. Es hat aber ziemlich lange gedauert, bis mich das mexikanische Wrestling schließlich richtig gepackt hat. Die Sprachbarriere und die oft chaotische Präsentation der Shows haben mich anfangs sehr gestört und ich habe erst lernen müssen, Lucha Libre ein bisschen besser zu verstehen. Erst nachdem das geschafft war, habe ich es auch lieben gelernt. Mittlerweile schaue ich bis auf wenige Ausnahmen nur noch mexikanisches Wrestling.
Du musst ja in der – sonst ja auch nicht gerade „unbunten“ – Szene als „Exot“ gelten?
Manchmal, ja. Vor allem bei kleineren Shows bin ich anscheinend ein echter Blickfang. Sowohl die Fans als auch die Luchadores sind desöfteren ziemlich erstaunt, wenn ein „Gringo“ den Weg zu einer Veranstaltung findet, die nicht von CMLL oder AAA ist und vielleicht auch noch in irgendeinem Hinterhof stattfindet. Das ist übrigens vollkommen unverständlich für mich, denn kleinere Shows lokaler Promoter sind im Normalfall sehr viel besser als die größeren Events. Nicht immer, wenn es um Matchqualität geht, aber allein, dass man sich dort einfach frei bewegen und auch mal mit den Luchadores plaudern kann, macht es in meinen Augen definitiv zum besseren Erlebnis.
Kannst Du uns eine besondere Lucha-Anekdote erzählen?
Ganz ehrlich? Im Lucha Libre ist so viel „normal“, dass nichts heraussticht, das sich nicht wie Namedropping lesen würde und dabei käme ich mir ein bisschen komisch vor. Die schönsten Momente erlebt man wie bereits erwähnt bei kleineren Lucha Libre Shows. Dort ist es ganz normal, dass einem hie und da mal ein Luchador auf den Kopf fällt oder man einen Lapdance von einem Exótico bekommt. Für mich ganz persönlich ist es außerdem immer besonders, wenn ich jemandem Lucha Libre zeige, der damit bis dahin rein gar nichts am Hut gehabt hat. Zumindest das erste Live-Erlebnis hat bis jetzt ausnahmslos jeden begeistert und ich genieße es sehr, das mitzuerleben.
Welche großen Lucha-Momente sind Dir in Erinnerung?
Viel zu viele, um sie aufzuzählen. Lucha Libre ist am 21. September 89 Jahre alt geworden und in dieser Zeit ist wahnsinnig viel passiert. Es ist eine der faszinierendsten und einflussreichsten Unterarten des Professional Wrestling. Außerdem ist es international aktuell eines der größten Nischenprodukte dieser Art von Unterhaltung. Das hat seine Gründe - u.a. die, die mich in der Vergangenheit selbst abgeschreckt haben. Eines der Ziele, die ich mit dem Lucha Lunes verfolge, ist es, meinen Lesern die wunderbare Welt und die großen Momente des Lucha Libre etwas näherzubringen. Deswegen tue ich mein Bestes, um in meinen Texten alle Informationen zu liefern, damit sie das aktuelle Geschehen verstehen können, ohne selbst Experten werden zu müssen, und um in den Videos, die ich heraussuche, nicht nur die Highlights der letzten Woche(n) , sondern auch einige der besten und wichtigsten Momente der langen Geschichte des Pro Wrestling in Mexiko zu präsentieren, wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet.
Was macht den typischen Lucha-Fan in Mexiko aus? Gibt es Unterschiede zum US-amerikanischen Fan oder dem europäischen Fan?
Wrestling in Mexiko erinnert mich oft an die Zeit, als es in den USA noch Territorien gegeben hat - und das spiegelt sich auch in einem großen Teil des nationalen Fandoms wider. Man geht zu den Luchas, die um einen herum stattfinden; sich diese im Fernsehen anzusehen ist meiner Erfahrung nach für viele nicht bedeutungslos, aber doch sehr viel nebensächlicher als in den USA oder Europa. Dass die meisten Shows um einen herum günstig und spät (und oft nicht in einem der besseren Viertel der Stadt) sind, ist für einen bestimmten Teil der Bevölkerung anziehend und für einen anderen eher abschreckend. Es gibt natürlich jegliche Art von Wrestling-Fan in Mexiko genauso wie überall sonst auch, aber ich denke, es gibt sehr viel mehr „smarte“ Fans in den USA und Europa.
Bei uns ist Wrestling ein Nischenprogramm. Welchen Stellenwert hat Wrestling in Mexiko?
Also Fußball ist zweifellos größer. In einer Online-Umfrage für „México Elige“ haben letztens nur 28 Prozent der Teilnehmer angegeben, Lucha Libre zu mögen. 56 Prozent haben das Gegenteil proklamiert. Das lässt zwar darauf schließen, dass es ein Nischenprogramm ist, aber: Das generell von Lucha Libre Shows angezogene Klientel besteht großteils nicht unbedingt aus Leuten, die einfach mal so an Online-Umfragen teilnehmen. Generell sehe ich, dass sowohl größere Lucha-Promoter als auch Luchadores stets bestrebt sind - und sein müssen -, nicht nur international, sondern auch und vor allem im eigenen Land als kulturell wichtiger Teil Mexikos wahrgenommen zu werden. Wieso dem nicht wirklich so ist, weiß ich selbst nicht.
Welche Bedeutung haben Ehre und Stolz für eine Luchador abseits einer Storyline und des Ringgeschehens? Ist Luchador eine „Lebenseinstellung“?
Luchador zu sein ist definitiv eine Lebenseinstellung. Die meisten Luchadores, mit denen ich gesprochen habe, kämpfen im Ring, weil sie das unbedingt wollen. Sie lieben Lucha Libre, wollen das Publikum begeistern und freuen sich, wenn sie das tun können. Natürlich sind Luchadores auch stolz, aber ich habe nicht wenige Top-Stars viel eher bescheiden und unendlich dankbar erlebt. Für einen guten Luchador ist es die größte Ehre, andere Menschen mit seinem Talent glücklich machen zu können. Dass Luchador zu sein eine Lebenseinstellung ist, sieht man auch an den unzähligen Wrestlingdynastien Mexikos. Es ist eine Leidenschaft, die Freude schafft - und diese Freude ist ansteckend.
Um ein wenig privat zu werden: Wir gratulieren Dir sehr herzlich zu Deiner Hochzeit jüngst! Wie nimmt Deine Frau Deine Lucha-Leidenschaft auf?
Ich habe das enorme Glück, dass meine Frau mir nicht nur intellektuell weit überlegen und viel zu schön für mich ist, sondern auch noch unendlich geduldig und verständnisvoll. Bevor sie mich kennengelernt hat, hatte sie überhaupt nichts mit Wrestling am Hut. Heute kann sie meine Begeisterung für Lucha Libre im Großen und Ganzen nachvollziehen, hat schon einige Lucha Libre Shows mit mir besucht und auch ihre eigenen Favoriten wie Hijo del Vikingo, Mr. Iguana und Microman. Anders als ich schaut sie sich zwar nur ausgewählte Highlights an, aber sie hat kein Problem damit, wenn ich mal ein paar Stunden damit verbringe, mich über Alberto El Patrón aufzuregen oder Bandido zu feiern.
Wir danken Dir natürlich sehr herzlich, dass Du IDG mit Deinen Berichten so großartig unterstützt. Was möchtest Du den heimischen (IDG-)Fans von Mexiko aus ausrichten?
Seid lieb zueinander und macht, was euch glücklich macht. Freut euch über alle guten Dinge und lasst euch von schlechten nicht ärgern. Ich hoffe, dass euch der Lucha Lunes gefällt. Falls irgendjemand Fragen oder Anregungen hat, dann nur her damit. Vielen Dank, dass ich eines meiner liebsten Hobbies mit euch teilen darf.
Herzlichen Dank, Raffael!!!